Die Entstehung des Elternhauses

  • Die Idee

    In Göttingen auf der Intensivstation angekommen, waren wir überglücklich zu erfahren, dass es ein Elternhaus gebe und wir darin sogar ein Zimmer bekommen könnten. Obwohl unser Kind keine onkologische Patientin war, wurden wir äußerst herzlich aufgenommen.« Bauausschuß (von links): Christian Langer, Karin Wissel, Harald Wissel, Sylvia Stöbe, Peter Johannis, Elke Praetorius, Otfried Gericke, Dörte Gericke, Friederike Hanwahr, Wolfgang Müller. Es fehlt: Henning Grahlmann.Solche Erfahrungen, wie sie diese Familie aus den Anfangsjahren des Elternhauses berichtet, haben seit Bestehen des Hauses Hunderte von Familien gemacht: Mitten aus dem Alltag gerissen, ohne Zeit für irgendwelche Vorbereitungen zu haben, finden sich Eltern mit ihrem schwer erkrankten Kind plötzlich in der Universitätskinderklinik Göttingen wieder. In höchster Angst um ihr Kind erleben sie gleichzeitig, dass es in unmittelbarer Nähe zur Klinik ein Haus für sie gibt, in dem sie nicht nur übernachten, sondern auch ihre Sorgen mit anderen Eltern teilen und in allen Fragen Rat und Unterstützung finden können.

    Die Idee, Elternhäuser in der Nähe von Kinderkliniken zu bauen, wurde in den USA geboren. Mitte der achtziger Jahre entstanden die ersten Häuser in der Bundesrepublik. In Göttingen hatten, bis die Kinderklinik Anfang 1988 in das neue Klinikum umzog, Eltern in einigen Dachkammern in der alten Kinderklinik notdürftig übernachten können. Bei der Planung der neuen Kinderklinik waren ursprünglich Elternzimmer vorgesehen, dann aber aus Sparsamkeitsgründen weggefallen. Der Umzug hätte also in dieser Hinsicht eine Verschlechterung bedeutet.

  • Die Planung

    In dieser Situation ergriff die »Elternhilfe für das krebskranke Kind Göttingen e.V.« die Initiative. Obwohl der Verein erst gut ein Jahr zuvor von betroffenen Eltern gegründet worden war und personell und finanziell noch auf schwachen Füßen stand, beschloss die Mitgliederversammlung der Elternhilfe am 1. November 1986, ein Elternhaus in unmittelbarer Nachbarschaft zur Kinderklinik zu bauen. Damit hatte sich die Elternhilfe eine große Aufgabe gestellt und es war keineswegs klar, ob sie ihr Vorhaben auch würde verwirklichen können:

    • Würde das Land Niedersachsen, dem das Klinikgelände gehörte, einem privaten Verein ein Grundstück zum Bau eines Hauses überlassen?Würde die Klinik einverstanden sein?
    • Würden sich im Verein die notwendigen Personen finden, eine solche Aufgabe anzupacken? Und würden sie das Durchhaltevermögen besitzen, auch nach dem Bau die Trägerschaft für das Haus auszuüben?
    • Woher sollten die finanziellen Mittel zum Bau des Hauses kommen? Und - noch wichtiger - wie sollte auf Dauer das Haus finanziert werden?

    Glücklicherweise wurden solche Fragen auf der genannten Mitgliederversammlung nicht diskutiert. Vielmehr sahen die Eltern, durch den drohenden Wegfall der Elternzimmer alarmiert, in dem Bau eines eigenen Hauses den einzigen Ausweg. Da die Zeit drängte - der Umzug der Kinderklinik war bereits für das Jahr 1987 geplant - setzte die Mitgliederversammlung gleich einen Bauausschuss ein, dessen Vorsitz Henning Grahlmann übernahm.

    Als erstes galt es zu klären, ob das Land Niedersachsen bereit sein würde, ein Grundstück für das Elternhaus zur Verfügung zu stellen. Ende November wurde ein entsprechender Antrag an die damalige Landesregierung unter Ernst Albrecht (CDU) gestellt. Um dem Antrag ein gewisses Gewicht zu verleihen, sprachen wir verschiedene Politikerinnen und Politiker an und baten sie, sich für unser Anliegen bei der Landesregierung einzusetzen. Besonders hilfreich und engagiert erwiesen sich dabei die damalige Bundestagspräsidentin und Göttinger Bundestagsabgeordnete Frau Prof. Dr. Rita Süssmuth und Frau MdB Petra Kelly. Bei einem Gespräch im Niedersächsischen Landtag konnten wir uns der Unterstützung sämtlicher im Landtag vertretenen Parteien versichern. Im Landeskabinett selbst stieß unser Antrag offensichtlich auf keinerlei Widerstand, so dass uns noch vor Weihnachten 1986 der Wissenschaftsminister mitteilen konnte, »dass die Niedersächsische Landesregierung bereit ist, dem Verein Elternhilfe für das krebskranke Kind Göttingen e.V. ein Grundstück in der notwendigen Größe zum Bau eines Elternwohnheimes in der Nähe des Göttinger Klinikums zur Verfügung zu stellen.« Später, bei der offiziellen Einweihung des Hauses, sagte uns der Wissenschaftsminister, er habe noch nie erlebt, dass ein Kabinettsbeschluss so schnell zustande gekommen sei.

  • Die Umsetzung

    Mit dem Kabinettsbeschluss war entschieden, dass wir ein Grundstück auf dem Klinikgelände erhalten würden, nicht aber, wo genau und wie groß. Diese Fragen mussten mit der Universitätsverwaltung geklärt werden. Die stand unserem Vorhaben zwar grundsätzlich positiv gegenüber, hatte aber verständlicherweise Zweifel, ob es einem so jungen und kleinen Verein wie der Elternhilfe gelingen würde, ein Elternhaus zu bauen und auf Dauer zu finanzieren. Die Verhandlungen verliefen zäh. Schließlich konnten wir den jetzigen Standort durchsetzen. Im Rückblick stellen wir immer wieder fest, dass die Lage des Hauses sehr günstig ist, da die Kinderklinik zwar in Sichtweite ist, andererseits aber ein gewisser Abstand von der Klinik den Eltern gut tut.

    Parallel zu den Verhandlungen mit der Universität und dem Staatshochbauamt entwickelte der Bauausschuss allmählich das Konzept des Hauses: Die meisten Mitglieder des Ausschusses hatten selber über Wochen und Monate mit ihrem krebskranken Kind im Krankenhaus gelebt und konnten sich gut erinnern, was ihnen in der damaligen Situation gefehlt hatte. So wurden in dieser Zeit die wichtigsten Weichen für die innere und äußere Gestaltung des Hauses gestellt. Ein wesentlicher Punkt war die räumliche Aufteilung des Hauses:

    • Die Einzel- und Doppelzimmer sollten den Eltern die Möglichkeit bieten, nicht nur in unmittelbarer Nähe ihrer Kinder zu übernachten, sondern sich auch tagsüber oder abends zurückzuziehen und allein zu sein, wann immer sie es wollten. Um jedoch jederzeit erreichbar zu sein, sollte jedes Zimmer über einen eigenen Telefonanschluss verfügen.
    • Daneben sollten Gemeinschaftsräume wie Küche, Wohnzimmer, Hauswirtschaftsraum, Garten usw. den Eltern Gelegenheit geben, sich kennenzulernen und miteinander ins Gespräch zu kommen.
    • Für die kranken Kinder sollten Spielmöglichkeiten draußen wie drinnen geschaffen werden, damit sie für Stunden »Urlaub von der Station« machen könnten.
    • Um den Kontakt innerhalb der Familie so weit wie möglich zu erhalten, sollten Vierbettzimmer für Geschwisterkinder eingerichtet werden.

    Eng verbunden mit der Planung der Räume war die Entscheidung, wieviele Personen und mit welcher beruflichen Qualifikation im Hause arbeiten würden. Sollte das Haus eher wie ein Hotel oder ein Wohnheim geführt werden, in dem den Eltern möglichst alle Arbeit abgenommen werden sollte, damit sie sich ganz ihrem kranken Kind widmen könnten? Oder sollten sich die Eltern möglichst wie zu Hause fühlen und selber die notwendigen Hausarbeiten erledigen? Sollten wir für Organisation und Verwaltung einen Hausleiter oder Hauseltern einstellen, die mit im Haus wohnen würden? Oder sollten wir sozialpädagogisch ausgebildete Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen einstellen, die die Eltern mit Rat und Tat begleiten und unterstützen würden? Der Bauausschuss war sich schnell einig, dass wir den Eltern ein »Ersatz-Zuhause« bieten wollten, in dem sie, wenn gewünscht, mit anderen Eltern in Kontakt kommen könnten und in den Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen fachlich kompetente Gesprächspartner finden würden.

    Schließlich war zu entscheiden, wie groß das Haus werden sollte. Zunächst planten wir ein Haus nur für Eltern krebskranker Kinder zu bauen. Aber bald wurde uns die Problematik bewusst. Würden wir mit der Beschränkung auf Familien mit einem krebskranken Kind nicht eine »Zwei-Klassen-Gesellschaft« unter den Eltern schaffen? Und gibt es nicht neben Krebs genauso schlimme, lebensbedrohende Krankheiten?

    Nach vielen Planungen und Diskussionen entschieden wir uns schließlich für eine mittlere Lösung: Grundsätzlich würde das Haus allen Eltern offenstehen, deren Kind in der Kinderklinik stationär aufgenommen ist. Im Konfliktfall sollten die onkologischen Eltern Vorrang haben. Mit zwölf Einzelzimmern, zwei Doppelzimmern und zwei Vierbettzimmern hofften wir den Bedarf realistisch eingeschätzt zu haben. Für den Fall, dass sich das Haus als zu klein erweisen sollte, beschlossen wir gleich die Möglichkeit eines Anbaus einzuplanen.

    In der Kasseler Architektin Sylvia Stöbe fanden wir eine kompetente Fachfrau, die unsere Vorstellungen kreativ umsetzte und mit der architektonischen Gestaltung viel zur wohnlichen Atmosphäre des Hauses beigetragen hat. Die Bauleitung vor Ort übernahm Architekt Peter Johannis. Mit großem Engagement setzte er sich für unser Haus ein und verhalf uns durch sein kostenbewusstes Vorgehen zu erheblichen Einsparungen.

    Bei allen eben beschriebenen Entscheidungen spielte die Frage der Kosten natürlich eine zentrale Rolle. Unsere ersten groben Schätzungen für die Baukosten beliefen sich je nach Größe des Hauses auf 1,1 bis 1,8 Mio. DM. Als die Mitgliederversammlung den Bau im November 1986 beschloss, besaß der Verein gerade einmal 50.000 DM, von denen 30.000 DM für den Bau verwendet werden sollten. Als das Haus eineinhalb Jahre später eingeweiht wurde, waren nicht nur alle Rechnungen in Höhe von rd. 1,5 Mio. DM bezahlt, sondern wir besaßen auch ein kleines finanzielles Polster, um die ersten Monate über die Runden zu kommen. Wie war das möglich?

    Zunächst war der Anfang schwierig. Ein »Bettelbrief« an Göttinger Unternehmen brachte so gut wie keine Resonanz. Wir waren einfach noch zu unbekannt. Ein Antrag an die Ronald-McDonald-Stiftung, die begonnen hatte, in der Bundesrepublik Elternhäuser zu bauen, blieb unbeantwortet. Anträgen an die Deutsche Krebshilfe und das Niedersächsische Zahlenlotto wurde eine »wohlwollende Prüfung« zugesagt. So mussten wir selber auf die Straße gehen und durch Infostände und Spendenaufrufe auf uns aufmerksam machen. Die Reaktion der Bevölkerung war hoffnungsvoll, auch wenn manche unser Vorhaben für utopisch hielten.

  • Erste Erfolge

    Der Durchbruch kam durch ein Gespräch mit dem damaligen Chefredakteur des »Göttinger Tageblattes«, Herrn Dr. Wiese. Von unserem Bericht über die Situation krebskranker Kinder und ihrer Familien stark beeindruckt, konnte er durchsetzen, dass das »Göttinger Tageblatt« den Bau des Elternhauses zu seiner Sache machte. Ein Mitglied der Redaktion, Frau Christine Jüttner, wurde für das »Projekt Elternhaus« zuständig, und dank ihres unermüdlichen Einsatzes verging bald kein Tag mehr, ohne dass ein Bericht über eine Spendenaktion oder eine sonstige Meldung zum Thema Elternhaus erschien. Wir wurden geradezu von einer Welle der Hilfsbereitschaft überrollt. Wir hatten den Eindruck, dass in Göttingen und Umgebung nur noch für das Elternhaus gespendet wurde, angefangen von Kindern, die uns den Inhalt ihrer Spardose brachten, bis hin zu großen Unternehmen, in denen Belegschaft und Geschäftsleitung gemeinsam Spendenaktionen durchführten.

    Alle trugen dazu bei, dass bereits zum Richtfest im Dezember 1987 klar war, dass wir das Haus schuldenfrei würden einweihen können. Dazu hatte allerdings auch ganz wesentlich beigetragen, dass wir inzwischen die festen Zusagen der Deutschen Krebshilfe und des Niedersächsischen Zahlenlottos vorliegen hatten. Wenn auch der Hauptteil der Spenden in der Bauphase aus Göttingen und Umgebung stammte, so fanden sich im Laufe der Zeit immer mehr Menschen aus anderen Städten und Regionen, die, teils durch persönliche Kontakte, teils durch Berichte in den Medien angeregt, selber spendeten oder Aktionen für das Elternhaus starteten.

    Trotz der Spendenflut war uns klar, dass damit das Problem der Folgekosten noch nicht gelöst war. Bereits bei den Anträgen an die Deutsche Krebshilfe und das Niedersächsische Zahlenlotto mussten wir detailliert darlegen, wie wir uns die laufende Finanzierung des Hauses vorstellten. Da wir uns für die Einstellung von zwei psychosozialen Mitarbeiterinnen entschieden hatten, lag das Kernproblem in der Finanzierung der Personalkosten.

    Von Anfang an war uns bewusst, dass es keine laufende Unterstützung durch die öffentliche Hand geben würde. So traten wir an die Krankenkassen heran und hofften durch Verhandlungen zu erreichen, dass die Kassen uns als Vertragspartner akzeptieren und uns einen bestimmten Betrag für jede Übernachtung bezahlen würden. Da es bis zu diesem Zeitpunkt keine entsprechenden Verträge in der Bundesrepublik gab, waren unsere Hoffnungen gering. Auf Initiative von Frau Prof. Dr. Süssmuth fand ein erstes Gespräch zwischen den Vertretern der Krankenkassen und uns statt, bei dem Frau Süssmuth sich sehr energisch für eine positive Lösung einsetzte. In einer Reihe von weiteren Gesprächen konnten wir feststellen, dass die Vertreter der Krankenkassen vor allem der damalige Regionaldirektor der AOK Göttingen, Herr Herbert Schulze sich unserem Anliegen immer aufgeschlossener zeigten und schließlich, für uns selbst überraschend, für alle Eltern, nicht nur die onkologischen, eine Regelung beschlossen, die uns bis heute eine Grundfinanzierung des Hauses zwischen 30% und 40% der Kosten sichert. Außerdem ermöglicht uns diese Regelung, dass wir für Familien, die in einer gesetzlichen Krankenkasse versichert sind, keine zusätzliche Übernachtungspauschale erheben müssen. Privat Versicherte haben in der Regel Schwierigkeiten, sich die Pauschale von ihrer Krankenkasse erstatten zu lassen.

    Während der Bauphase hatten sich einige Göttinger Bürgerinnen und Bürger in besonderer Weise für das Elternhaus engagiert. Um die Elternhilfe von der Sorge um die Folgekosten ein Stück weit zu entlasten, gründeten sie im Mai 1988 einen eigenen Verein, den "Förderkreis Elternhaus Göttingen e.V.". Zur Vorsitzenden wurde Frau Elke Praetorius, zum Schatzmeister Herr Günter Mecke gewählt. Dank des großen Einsatzes insbesondere der beiden genannten Vorstandsmitglieder konnte der Verein weit über Göttingen hinaus eine große Zahl von Förderern gewinnen und in den folgenden Jahren erheblich zur finanziellen Sicherung des Elternhauses beitragen.

    Von Anfang an hatte die Kinderklinik unser Projekt begrüßt und mitgetragen. Professor Dr. Werner Schröter, einer der Direktoren der Kinderklinik, hatte uns bei der entscheidenden Mitgliederversammlung am 1.11.1986 Mut gemacht, den Beschluss, ein Haus zu bauen, zu fassen. Frau Friederike Hanwahr, psychosoziale Mitarbeiterin auf der onkologischen Station, beteiligte sich besonders an der Ausarbeitung der Konzeption für die inhaltliche Gestaltung der Arbeit im Elternhaus. Das Elternhaus sollte zwar eine eigene Einheit bilden, aber die Arbeit im Elternhaus sollte eng mit der psychosozialen Betreuung auf der Station verknüpft sein. So waren beispielsweise gemeinsame Teambesprechungen vorgesehen.

    Ein weiterer Punkt, an dem uns sehr viel lag, war unser Wunsch, dass die kranken Kinder, wenn es ihnen besser ging und der zuständige Arzt zustimmte, die Erlaubnis bekommen würden, stundenweise ins Elternhaus zu kommen und dort nach Herzenslust zu spielen, d.h., wie wir es nannten, "Urlaub von der Station zu machen". In Verhandlungen mit der Klinikleitung wurde dieses Ziel auch erreicht. So konnten wir schließlich am 9. Juni 1988 unter großer Beteiligung der Bevölkerung und starker Beachtung durch die Medien unser Elternhaus einweihen. Zwei Tage später zog die erste Mutter ein. Wir hatten ein großes Ziel erreicht. Wie würden sich unsere Erwartungen und Vorstellungen im Alltag verwirklichen lassen?