Entwicklung

  • Eltern

    Unsere Sorge, dass wir das Haus zu groß gebaut haben könnten, wich schnell, denn viele Eltern waren froh, so nah bei ihrem Kind übernachten und die Chancen des Elternhauses nutzen zu können. So pendelte sich bald eine Belegungsrate um 70% ein.

    Dabei blieb die Möglichkeit bestehen, dass ein Elternteil, wenn gewünscht und machbar, auch auf der Station direkt neben dem Kind auf einem Notbett übernachten konnte. Uns war wichtig, dass keiner gedrängt oder gar gezwungen werden sollte, im Elternhaus zu wohnen. Meist merkten die Eltern jedoch selber, dass es ihnen gut tat und indirekt auch dem Kind zugute kam, wenn sie ins Elternhaus zogen.

    Das Elternhaus für alle Eltern zu öffnen, unabhängig von der Erkrankung des Kindes, erwies sich als eine sinnvolle Entscheidung. Die Regel "onkologische Eltern haben Vorrang" mussten wir so gut wie nie anwenden, ja wir gewöhnten uns immer mehr ab, zwischen "onkologischen" und "nicht-onkologischen Eltern" zu unterscheiden.

    Im ersten Jahr kam es häufiger vor, dass Eltern nur für eine Nacht das Haus nutzen wollten. Um eine zu große Fluktuation zu vermeiden, die sich negativ auf die anderen Bewohner auswirken würde, legten wir eine Mindestdauer von drei Nächten fest.

    Wie erwartet, ist für die Eltern das Zusammenleben mit anderen Eltern in dieser besonderen Situation nicht immer einfach: Einerseits findet man Verständnis und Unterstützung bei anderen Eltern, andererseits können Leid und Sorgen anderer die eigene Last, die man zu tragen hat, noch vergrößern. Insgesamt können wir sagen, dass die positiven Erfahrungen überwiegen. Nicht selten sind in der Zeit im Elternhaus Freundschaften entstanden, die weit über die gemeinsame Zeit im Elternhaus hinausreichen.

    Im Elternhaus wohnen Eltern aus allen sozialen Schichten. Da jede Familie ihre eigenen Gewohnheiten und Standards hat, kommt es natürlich gelegentlich zu Spannungen und Reibungen. Aber wir waren in der Vergangenheit immer wieder überrascht, wie rücksichtsvoll die Eltern in der Regel miteinander umgehen. Das gemeinsame Schicksal verbindet eben stark und lässt sonstige Unterschiede verblassen.

    Die Göttinger Kinder-klinik hat ein großes Einzugsgebiet, das sich durch die Einheit Deutschlands seit 1990 noch erheblich erweitert hat. Auch international hat Göttingen einen guten Ruf. So haben auch ausländische Fa-milien im Eltern-haus gewohnt. Das Spektrum der ausländischen Be-wohner reicht vom arabischen Scheich, der uns bei seiner Abreise seine gesamte europäische Kleidung, die er sich für den Aufenthalt in Deutschland gekauft hatte, zur Entsorgung hinterließ, bis hin zur der türkischen Familie, die ihr Haus in der Heimat verkauft hatte, um ihrem leukämiekranken Kind eine Therapie in Deutschland zu ermöglichen. Die sprachliche Verständigung stößt in solchen Fällen oft an Grenzen, auch wenn für unsere MitarbeiterInnen Englisch selbstverständlich ist.

    Die Familien kommen oft aus anderen Kulturkreisen mit ihren besonderen Gewohnheiten und Ritualen. Zum Beispiel trauern diese Familien ganz anders über den Verlust eines Kindes als bei uns. So haben wir einmal erlebt, dass sich nach dem Tod ihres Kindes eine Großfamilie mit über 40 Personen im Elternhaus ver-sammelte und mit lauten Trauergesängen Abschied von dem Kind nahm. In sol-chen Situationen sind die MitarbeiterInnen besonders gefordert, um ausgleichend zu wirken.

  • Kinder

    Es gehört zu unserem Konzept, dass die kranken Kinder besuchsweise ins Elternhaus dürfen. Wir sind froh, dass wir diese Regelung mit der Klinik vereinbart haben. Auch wenn die Stationen mit onkologischen Patienten gut mit Spielzeug ausgestattet sind und Erzieherinnen mit den Kindern basteln und spielen, hat ein Aufenthalt im Elternhaus für die Kinder eine andere Qualität: Das Angebot an Spielmöglichkeiten drinnen und draußen ist anders, es ist mehr Platz da als auf der relativ engen Station, und - das Wichtigste - die Kinder wissen, dass nicht im nächsten Augenblick eine schmerzhafte Untersuchung oder Behandlung kommt; denn das Elternhaus ist "pieksfreie Zone", wie es das Göttinger Tageblatt einmal in einem Bericht formuliert hat.

    Eltern haben uns immer wieder berichtet, dass sie ihre Kinder, wenn sie mit ih-nen wieder nach Göttingen zum nächsten Therapieblock fahren müssen, mit der Aussicht auf das Spielen im Elternhaus locken. "Das ist so etwas wie das Licht am Ende des Tunnels", beschrieb uns einmal eine Mutter diese Situation.

    Der Besuch im Elternhaus ist für die kranken Kinder ein Schritt zurück ins "normale" Leben. Dort können sie ungehindert mit ihren Geschwistern spielen, ja es haben sogar gelegentlich Kinder und Jugendliche ihren Geburtstag mit Verwandten und Freunden im Jugendraum des Elternhauses gefeiert.

    Für Familien mit kleineren Kindern ist es meist unproblematisch, dass sie mit im Elternhaus wohnen. So sind manchmal ganze Familien für Monate ins Elternhaus umgezogen. Bei älteren Kindern sind wegen der Schule in der Regel nur Besuche am Wochenende oder in den Ferien möglich. Insgesamt ist jedoch diese Möglichkeit weniger genutzt worden, als wir bei der Planung gedacht hatten.

  • Personal

    Auch wenn das Elternhaus keinen Hotelcharakter haben sollte und die Eltern, soweit möglich, wie zu Hause leben sollten, war uns klar, dass für Reinigung und Pflege von Haus und Garten nicht allein die Eltern verantwortlich sein konnten. So stellten wir zwei Reinigungskräfte für das Haus ein und beauftragten einen Hausmeisterservice für Reparaturen und die Gartenpflege. Ihre Gründlichkeit und Sorgfalt haben dazu beigetragen, dass das Elternhaus immer noch den Eindruck eines neuen Hauses macht. Auch haben wir die Erfahrung gemacht, dass die Eltern sehr pfleglich mit dem Inventar umgehen.

    Da die Reinigungskräfte relativ früh ihre Arbeit beginnen, kommt es immer wieder vor, dass sie als erste erfahren, wenn in der Nacht etwas Schlimmes passiert ist, wenn es z.B. einem Kind plötzlich sehr viel schlechter geht oder es gar verstorben ist. In solchen Situationen wird deutlich, dass der besondere Charakter des Hauses die Arbeit aller Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen, wenn auch in unterschiedlicher Intensität, prägt.

    Schon bald nach der Einweihung des Hauses mussten wir erkennen, dass wir den Verwaltungsaufwand für Haus und Verein unterschätzt hatten. So stellten wir 1991 eine Verwaltungskraft ein. Sie hat sich als unentbehrliche Stütze für das Funktionieren von Haus und Verein erwiesen und trägt durch ihre regelmäßigen Kontakte zu den Eltern wesentlich zur guten Atmosphäre des Hauses bei. Den psychosozialen Mitarbeiterinnen hatten wir von Anfang an eine zentrale Rolle zugedacht. Von ihrer fachlichen Kompetenz und ihrer persönlichen Ausstrahlung würde es abhängen, ob sich Eltern im Haus wohl fühlen und eine echte Unterstützung in ihrer schweren Situation finden würden. Neben den organisatorischen Aufgaben wie Zimmerverteilung etc. sollten die Mitarbeiterinnen den Eltern bei allen Problemen zur Seite stehen, angefangen von ganz praktischen Fragen nach Einkaufsmöglichkeiten in der Stadt bis hin zu psychologischer Hilfe in lebensbedrohenden Krisen.

    Obwohl sich der Aufgabenbereich der beiden Mitarbeiterinnen im Wesentlichen deckte, entwickelten sich allmählich gewisse Schwerpunkte: Während die eine Mitarbeiterin im kreativen Bereich beim Töpfern, Malen etc. die Eltern ermunterte und anleitete, engagierte sich die andere Mitarbeiterin in der Nachbetreuung der Eltern. Beide zusammen entwickelten in Absprache mit dem Vorstand neue Wege im Bereich der Nachsorge (z. B. Wochenenden für verwaiste Eltern). Da die Aufgaben der Mitarbeiterinnen wuchsen, entschlossen wir uns Anfang 1998 eine dritte psychosoziale Stelle zu schaffen und sie mit einem Mann zu besetzen, der in besonderer Weise Ansprechpartner für Jugendliche und Väter sein sollte.

    Ein wichtiges Kriterium für die erfolgreiche Arbeit im Elternhaus ist die Kontinuität der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. So halten z.B. auch nach dem Aufenthalt viele Eltern Kontakt zum Elternhaus und den ihnen vertrauten psychosozialen Mitarbeitern. In der Vergangenheit hat es in dieser Hinsicht kaum Veränderungen gegeben. Alle Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen eint das Gefühl, eine mitunter schwere, aber sehr sinnvolle Tätigkeit auszuüben. So hat sich im Laufe der Zeit eine engagierte "Elternhauscrew" zusammengefunden, in der jeder seinen Beitrag dazu leistet, dass die Eltern sich im Haus wohl fühlen und neue Kraft schöpfen können.